Virtuell gemalt

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Als Abbilder sind Malereien ehrlich und verlässlich. Gleich ihre farbigen Oberflächen stellen sich dem Betrachter mehr oder weniger massiv entgegen und sperren ihn von der Wirklichkeit aus wie eine Flügeltür. Schwer beschlagen mit der Emanzipationsgeschichte einer ursprünglich wandgebundenen Gattung, halten selbst die mobilen Tafeln auf Distanz, was den Grad an Glaubwürdigkeit eines Gemäldes im Verhältnis zur (historischen wie aktuellen) Realität nicht ganz unwesentlich mitbestimmt. Malerei ist demnach als vielschichtiges Mach-Werk authentisch. Als Materialisation innerer Bilder erscheint sie noch dazu extrem subjektiv, was ihr einmal mehr jene Relativität verleiht, die sie heute im Allgemeinen nur wenig beunruhigend wirken lässt. Doch wenn es Arnold Böcklin gelingt, menschenverwandtes Meervolk mit zusammengesetzten, zum Teil fischig-glitschigen Leibern beinahe fotorealistisch abzubilden, befällt uns der erste panische Schrecken. Glücklicherweise ist die bedrohliche, weil unserem Körper in mehrfacher Hinsicht nahe Szenerie seit mehr als 100 Jahren mittels Ölfarbe auf Leinwand gebannt, und ihre Existenz konnte dahinter nicht mehr und davor noch nicht nachgewiesen werden – etwa mittels einer Fotografie, die man in gewisser Weise ernster zu nehmen hätte. Denn diese analogen Aufnahmen erweisen sich mitunter als ziemlich gefährlich. So verfremdet sie auch sein mögen, legen sie doch über jene einst abgelichteten Dinge mindestens eine Spur, die im Gegensatz zum Pfad der Objekte in den combine paintings nicht zurück zur Malerei, sondern direkt in unsere Welt führt.
Obwohl wir längst wissen, dass im digitalen Zeitalter mittels hochspezialisierter Technik Wirklichkeitsbilder von ungeahnter Detailtreue bis in die letzten Pixel erzeugt werden können, ist uns ebenso klar, dass sie mindestens genauso raffiniert zu manipulieren sind. So bewirken diese fotografisch anmutenden Bilder, ob nun durch den Kunstbetrieb oder/und massenmedial vertrieben, von vornherein eine verschiedentlich ausgeprägte Verunsicherung, woran auch eine offizielle Autorisierung wenig ändert. Während die Signatur des Malers häufig als Teil der Faktur immerhin noch verbindlich, zumindest aber überprüfbar bleibt, erscheint der Urheber von Presse- und Fernsehbildern oft als konturlose Größe, deren einzige verlässliche Eigenschaft die Kenntnis und Anwendung eines Bildbearbeitungsprogrammes darstellt. Der Freund und Sammler virtueller Kunst mag noch willig versuchen, ein wie auch immer greifbar gemachtes Bild, einen Ausdruck etwa, mit dem nachträglichen Namenszug des Künstlers als „stellvertretendes Original“ zu betrachten. Von Skepsis geleitet, entscheiden wir ansonsten weniger nachgiebig, welchen Bildern wir trauen wollen oder welche wir lieber etwas von uns zurückweisen, mitunter gar gleich nach ihrem Auftauchen umblättern, wegzappen oder ausschalten, also löschen, und möglichst auch im Gedächtnis ausblenden, was allerdings nicht ganz so einfach zu bewerkstelligen ist. Obwohl diese nicht in Öl gemalt, sondern häufig analog oder digital erzeugt bzw. eben bearbeitet sind, betrachten wir sie wie Böcklins Bilder der Nereiden. Dennoch – wir glauben voller Hoffnung und Sehnsucht an die Bilder. Als Projektionsflächen für Visionen und Utopien sind sie lebensnotwendig, ganz egal, welcher Gattung sie angehören oder welchem Medium sie ihre Entstehung verdanken.
Auch Stefan Fahrnländers neueren Bildern mag man zunächst mit Vorsicht und der Frage nach ihrer Herkunft begegnen. So gegenständlich sie auch scheinen, so befremdlich wirken sie im Verweis auf die realen Gegenstände, die sie (vielleicht) meinen. Echte Fotografien sind sie jedenfalls nicht, und als „wahre Lügen“ geben sie natürlich wenig Preis.
Fahrnländer nutzt für die Produktion (man könnte auch nach wie vor pathetisch von „Schöpfung“ sprechen) seiner Bilder der letzten drei Jahre vornehmlich handelsübliche Grafikprogramme. Nur in wenigen winzigen, nun virtuellen Schnipseln sind noch vormalige Fotografien und damit Mosaiksteine von Wirklichkeit erkennbar, die der Künstler zu neuen, polygonalen Einheiten zusammenfügt und als repeats dann zu Bildmotiven oder -fonds aneinanderreiht – mit Hilfe der Computertechnik. Seinen virtuellen Bildern, die meist als gerahmte Inkjetprints auf Satinpapier Galerietauglichkeit erreichen, manchmal aber auch konsequent den Monitor als Träger nicht verlassen, liegt jedoch immer eine isometrische, per 3D-Programm erzeugte Gitterkonstruktion zugrunde. In gewisser Hinsicht ist diese dem traditionellen Karton vergleichbar, der, weil von Künstlerhand ausgeführt, nicht nur für die ihn übertragenden Wandmaler der Renaissance besonders wertvoll war. Das 3D-Drahtgittermodel erscheint auf dem flachen Bildschirm wie der für die Malerei vorgesehene Karton unter Berücksichtigung der Zentralperspektive, die sich nun jedoch beinahe stufenlos per Mausklick verzerren lässt. Fahrnländer legt über sein virtuelles Koordinatengerüst, das die wesentlichen Kompositionselemente für das zukünftige Bild bereits enthält, diverse Oberflächen, u. a. die der oben erwähnten „fotografischen“ Polygone, und betreibt somit eine Art Farbauftrag, der erneut an die klassische peinture erinnert. Das Ergebnis ist ein virtuelles Bild, welches den meisten der schriftlich zusammengetragenen 21 Kriterien Marcel Broodthaers zu den Peintures (série l’art et les mots) (1973) entspricht und demnach anstandslos als Malerei gelten kann, wenn auch als „Malerei ohne Malerei“ , also ohne herkömmliche Trägermaterialien und Malmittel wie Leinwand und Pinsel. Doch auch diese beherrscht Fahrnländer meisterhaft, was sich nicht zuletzt auf sein Studium an einer der renommiertesten deutschen Malschulen, der Dresdner Kunstakademie, zurückführen lässt. Man hat seinen in eher dunklen Farbtönen gehaltenen, figürlich-flächigen Malereien der frühen 1990er Jahre eine für die Dresdner Schule typische Expressivität bescheinigt, vor allem aber aufgrund der Biographie des Künstlers Melancholie und Schwere diagnostiziert. Auf der zeitbedingten Suche der Kunstkritik nach dem dekonstruktivistischen Element geriet Fahrnländers Interesse an der Konstruktion, besonders von Räumen, etwas in den Hintergrund, wofür zugegebenermaßen Titel wie Interieur/Verhör Vorschub leisteten oder tatsächlich Ursache boten. Doch entstand bereits 1992 eine Serie menschenleerer und farbenfroher Räume, der ein Jahr später jene Flügel folgten, die an offene Türen zwischen Schatten und Licht erinnern. Diese in Duktus und Farbgebung klassisch-modern anmutenden, streng geometrischen Architekturmalereien erscheinen entfernt wie die Vorläufer der dann popartigeren Ausführungen des jüngeren Dresdners Thomas Scheibitz zum selben Thema, so als ob noch in der Wiederholung die kunstgeschichtliche Chronologie bestätigt würde.
Parallel zu Architekturfotografien, die als großformatige C-Prints präsentiert wurden, schuf Fahrnländer dann seit 2000 Malereien, die im Auftrag deutlich geglättet und in der Palette heller sind. Noch dazu lassen die jetzt häufiger statt der Öl- verwendeten Acrylfarben diese Gemälde frischer, zeitgemäßer und eben auch anonymer erscheinen. Nach wie vor sind abstrakte Linien- und Flächengefüge, doch auch gegenständlich-detaillierte, beinahe fotorealistische Architekturen auszumachen, die einmal mehr die Vorliebe des Künstlers für klar strukturierte Kompositionen und Bildräume unter Verwendung nahezu reiner Farben belegen. Diese seine malerischen Prinzipien finden sich auch in den neuesten, digitalen Arbeiten wieder. Zudem verheißt die Reihe der Baumhäuser I-V (2003) bereits in den gleich lautenden Bildtiteln noch immer Architektur, nun sogar jener Einfamilienbauten, die – obwohl in zweifacher Hinsicht recht unerschwinglich – momentan als besonders trendy gelten. So schlingen sich dann rötlich-goldbraune, gemaserte Bänder komplementär korrekt wie riesige Wespennester oder Spanschachteln um die dünnen Stämme dicht und dunkelgrün belaubter Bäume. Das als solches bezeichnete Baumhaus erscheint wie ein fragiles, lichtdurchlässiges Luftschloss im organic design, welches sich in der Realität möglicherweise als ökologisch, aber wenig funktional erweisen würde. Jedoch handelt es ist ja „in Echt“ auch um ein virtuelles, äußerst plastisch anmutendes Modul, das dann tatsächlich in früheren Bildern von Fahrnländer mit anderen Oberflächen überzogen als Flugobjekt auftauchte. Wenn überhaupt, wird hier nicht der künstlerische Wettstreit mit der Wirklichkeit ausgetragen, sondern die neuen malerischen Mittel gegenüber den alten erprobt (wobei virtuelle Pinsel als „Werkzeuge“ eine eher marginale Rolle spielen). Weil zur Simulation umwickelter Räume virtuos eingesetzt, macht die Computermaltechnik eine Verwechslung speziell der Baumhaus-Reihe mit den Streifenbildern der 1960er Jahre ganz und gar unmöglich. Jener durchaus spielerisch gemeinten Kreation und Kombination von Bildelementen, die bis ins Detail genau oder verschieden und darin unendlich oft reproduzierbar sind, werden in der Computermalerei keine Grenzen gesetzt, was sicherlich auch Fahrnländer zum entsprechenden Malmedienwechsel veranlasst hat.
Hinsichtlich der Fonds lassen sich die wiederum als variationsreiche Serie ausgeführten Bilder Jungle I-V (2003) den Baumhäusern recht unmittelbar vergleichen. Auch hier meint man zunächst, im Hintergrund Wiesen zu erkennen, die jedoch auf den zweiten Blick recht wenig natürlich gewachsen, sondern vielmehr am Bildschirm konstruiert sind. Erneut hat Fahrnländer vegetabile Szenerien geschaffen, die aufgrund satter Grüntöne (und weniger der konkreten Pflanzen wegen) Dschungel-Assoziationen wecken. Im ausladenden Geäst haben sich nun eigenartige, graublaue Maschinenteile verheddert, welche ihrer Form nach vom Kühler und Motor über Bombenträger an Haushaltsgeräte erinnern. Auch bei diesen schwer und massiv erscheinenden, vermeintlichen Metallstücken handelt es sich um virtuelle Elemente, die als so genannte Aufklärer (2003) mit den märchenhaft-bedrohlichen Typenbezeichnungen Goldmar, Elberich und Mach auch in anderen Computermalereien des Künstlers zum Einsatz gelangten. Dort werfen sie meisterliche Bild-Schatten und scheinen, wenn auch nicht unbedingt ihre Seelen, so doch mindestens ihre Existenz über sich selbst hinaus zu bestätigen, indem ihre reflektierenden Oberflächen fremde, nicht im Bild befindliche Objekte spiegeln. Der Untertitel der Jungle-Bilder – Gescheiterte Hoffnung – verweist nun aber auf ihre wenig erfolgreiche Mission. Doch was sollten über Küstenlandschaften und Dschungelwäldern dahinfliegende Objekte namens Mach auch ausrichten oder erkunden? Schließlich leben wir im Zeitalter der legitimierten Überwachungskamera und alles, was auf unserem Planeten geschieht, ist bekannt, wenn auch nicht immer uns persönlich. Alle anderen Bilder senden „spirit“ und opportunity“. Oder bewegen sich Fahrnländers Aufklärer vielleicht doch im virtuellen Fahrwasser jenes bereits um 1823/24 im Eismeer gestrandeten Schiffs, das möglicherweise „Hoffnung“ hieß? Die Komposition des Bildes Jungle II lässt zumindest im Hinblick auf die Anordnung eines rechtwinkligen und eines diagonalen Linienkreuzes sowie der Betrachterperspektive an das hochkomplexe Werk Caspar David Friedrichs denken, dessen phantastische Eismeerszenerie nur als Imagination jene „transzendentale Realität“ erreichen konnte, die uns bis heute so fasziniert. Vielleicht ist auch Fahrnländers menschliche Technik im Bild an der Natur gescheitert. Vielleicht zeigt der Künstler aber auch, dass zwei seit langem getrennt voneinander gedachte Entitäten einen Ursprung haben, der ins Unendliche reicht.

Silke Opitz